In unserem Ritual erinnert der Meister vom Stuhl – für viele merkwürdigerweise – in einem Satz auch an das, oder besser gesagt an ein Gesetz. Warum eigentlich? Ich werde in dieser Zeichnung versuchen mich der Frage: „Wieso ein Gesetz und hat es eine Bedeutung für uns?“ zu nähern und eine Erklärung zu finden.
Gehen wir die Frage zunächst pragmatisch an, indem wir uns dem Gesetz über eine Definition des Oberbegriffes „Recht“ annähern: Unter Recht versteht man in einem allgemeinen Sinne die von einem Organ des Gemeinwesens gesetzte Regel, die rechtsverbindlich und für die Zukunft das Zusammenleben ordnet. Typisch ist die allgemeine Verbindlichkeit des Gesetzes, das heißt die abstrakte Formulierung der Regel für unbestimmt viele Sachverhalte und Personen. Kurz gesagt: Gesetze müssten vernünftig und für alle gleich sein.

Im Weiterschreiten der Definition stoßen wir auf die Religionen. Auch ihr Wesen beruht auf Gesetzen. Die Religionen berufen sich dabei auf die göttliche Offenbarung, auf Verordnungen der Religionsstifter, sowie auf die Traditionen. So entstehen die Normen und Vorschriften zur Regelung des religiösen und alltäglichen Lebens. Religiöse Gesetze gelten darüber hinaus jedoch als Ausdruck eines göttlichen Willens. Ihre Befolgung ist für die Mitglieder der Religionsgemeinschaften verbindlich und im Rahmen des vorherbestimmten Frömmigkeitsverständnisses auch heilsnotwendig. Sie sind auch nicht hinterfragbar, da sie sozusagen einen übermenschlichen Charakter angepasst bekommen.
Drittens sind die wissenschaftlichen Gesetze zu nennen. Hier definieren sprachliche oder mathematische Formulierung regelhafte Zusammenhänge zwischen Phänomenen aller Art. Logische Denkgesetze beschreiben die allgemeinsten Verfahrensweisen des Denkens bei der Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen oder drücken Folgerungen aus, die sich durch Anwendungen der logischen Gesetze ergeben. Die Wissenschaftstheorie unterscheidet zwischen empirischen und theoretischen beziehungsweise beschreibenden und begründenden Gesetzen. Die empirischen Gesetze, wie z. B. das Fallgesetz, stellen die Regelmäßigkeiten im Gegenstandsbereich einer Wissenschaft fest, erklären die beobachtete Verknüpfung von Beobachtungsgrößen als allgemeingültig und ermöglichen so Voraussagen über den Ausgang von Experimenten. Theoretische Gesetze, z. B. das Newtonsche Gravitationsgesetz, beschreiben und erklären den Zusammenhang einzelner empirischer Gesetze. Daneben spielen Wahrscheinlichkeitsaussagen eine bedeutende Rolle.
An dieser Stelle können wir schon feststellen, dass der Begriff „Gesetz“ eine wirkungsmächtigere Aussage trifft als die Begriffe; Verordnung, Satzung oder Statut. Bei einer Verordnung wird nur eine Regelung des Verfahrens in bestimmten Fällen angedeutet. Satzung ist ein altes deutsches Wort, das die rechtlichen Bestimmungen bezeichnete, auf die irgendeine große Körperschaft, Universität, Ritterorden, Zünfte, Innungen usw. gestiftet worden waren. Bei Gründung von Gesellschaften verwendet man gewöhnlich das Wort „Statuten“. All diese Begriffe haben aber nur eine eingeschränkte Bedeutung. Nur wenn wir das Wort Gesetz hören, empfinden wir dabei eine unbedingte Verbindlichkeit und setzen es in Zusammenhang mit einer höheren Bedeutung.
In der Freimaurerei kennen wir in unserem System mehrere Arten von Gesetzen: ethische wie die „Alten Pflichten“, begründet auf den Landmarken – und unsere jeweiligen Satzungen und Hausgesetze. Ethik und auch die „Alten Pflichten“ regeln unsere elementaren ideellen Ansprüche, die Satzungen und Hausgesetze decken notwendigerweise die vereinsrechtliche Seite ab.
Letztere sind imgrunde hinreichend damit erklärt, dass sie eine administrative Notwendigkeit sind, obgleich kritisch anzumerken ist, dass sich in der Freimaurerei Logen gerne mit vereinsrechtlichen Kleinigkeiten auseinandersetzen und darüber den Kern der Maurerei vergessen. Hier gilt es immer wieder darauf zu verweisen, dass jene administrativen Notwendigkeiten, also unsere Satzungen und Hausgesetze, uns erst in die Lage versetzen, nicht als Winkellogen unser Dasein zu fristen, sondern als anerkannte, meist eingetragene Vereine in der Öffentlichkeit unter dem Dach einer Großloge aufzutreten. Zu fragen ist hier auch immer wieder, welchen juristischen und esoterischen Wildwuchs wir zu befürchten hätten, wenn nicht ein Organ wie die Großloge die Voraussetzungen für die vereinstechnische wie freimaurerische Ordnungsmäßigkeit schaffen würde. Wobei zu betonen ist, dass die Großloge regelnd und nicht reglementierend eingreift. Hierbei geht es nicht um kleinkarierte Satzungsdiskussionen, sondern um juristische Notwendigkeiten, auf die die Großloge zu achten hat, um nach außen, wie nach innen, die Rechtlichkeit der Freimaurerei und damit der einzelnen Logen zu gewährleisten. Sicher wird jeder der Feststellung zustimmen, erst wenn wir vereinsrechtlich auf der sicheren Seite sind, ersparen wir uns unnötige Schwierigkeiten. Schwierigkeiten überdies, die uns davon abhalten, unserer eigentlichen Aufgabe nachzukommen.
In der Freimaurerei setzen wir uns aber nicht hauptsächlich mit den bürgerlichen Gesetzen auseinander – zumindest sollten wir es nicht, sondern mit einer Art höherem Gesetz. Werfen wir dazu einen Blick in unser Ritual. Hier stoßen wir bei der Eröffnung der Tempelarbeit auf den Satz: „Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“. Welches Gesetz ist gemeint? Das Hausgesetz? Die Freimaurerische Ordnung? Das Sittengesetz, auf das unsere Idee gründet – oder das Gesetz, auf das das „Buch des Heiligen Gesetzes“ aufgebaut ist? Nähern wir uns der Sache mit unserem geistigen Ahnherrn Goethe. Aus seinem Gedicht „Natur und Kunst“ stammt der Satz, den wir in unserem Ritual zitieren: „Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“.
Goethe veranschaulicht in seinem Sonett, dass Natur und Kunst nur zusammen etwas bewirken können. Der Mensch soll demnach nicht nur einzelne Tugenden besitzen, sondern alle menschlichen Kräfte ausbilden, wie Gefühl und Verstand, künstlerisches Empfinden und wissenschaftliches Denken, theoretisches Erfassen und praktische Umsetzung. Zwischen diesen Fähigkeiten soll er schließlich das gesunde Mittelmaß finden. Als Erkenntnis ergibt sich daraus, dass man, um ein Ziel erreichen zu können, aktiv werden muss. Ohne Taten wird man keine Veränderung vollbringen und somit auch nichts an seinem Zustand verbessern. Oder um es mit Goethes Worten zu sagen: „Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!“ Insbesondere in der letzten Strophe wird noch mal Goethes Intention erkennbar. Nur wer bemüht ist und nicht vom Weg abkommt; nur wer sein Ziel nie aus den Augen lässt, wird in der Lage sein, alles zu schaffen, was er sich vorgenommen hat. Zitat: „Wer Großes will, muss sich zusammenraffen; in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“
Es geht also um mehr als um eine rein juristische Gesetzgebung. Kurz gesagt, es geht um die Begründung und Formulierung eines allgemeinen Sittengesetzes. Mit der Vorstellung einer solchen allgemeinen Gesetzgebung hängt unmittelbar die Idee der Menschheit zusammen, die der Mensch als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt, und die auch wohl geradezu mit dem Gesetz identifiziert wird. Der Mensch ist in diesem Zusammenhang aber nicht bloß das Objekt der Betrachtung, er selbst ist der Schöpfer des Sittengesetzes. Er bringt durch seine Erkenntniskraft eine allgemeine Gesetzgebung erst hervor. Die Idee der Freimaurerei wird nun, indem sie auf die eigene Person zurückbezogen wird, zur Idee der „Menschheit in uns selbst“, das heißt unserer Persönlichkeit. Das formale Gerüst, das uns die Freimaurerei dabei an die Hand gibt, enthüllt uns unser »eigentliches Selbst«, unsere »bessere Person«, unsere »Würde« – oder maurerisch gesagt: die Arbeit am rauen Stein lässt uns das Gesetz erkennen. Goethe spricht im „Faust“ von der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieses Innerste steht in einem direkten Bezug zu unserem inneren Selbst. Kant spricht vom „gestirnten Himmel über uns und dem moralischen Gesetz in uns“. Insofern handelt sich um ein Gesetz, das unserer raumzeitlichen Erkenntnismaßstäbe bedarf, um nicht an juristischen Spitzfindigkeiten zu scheitern.
Dennoch weist dieser Tatbestand nicht darauf hin, dass wir im Unerklärlichen bleiben müssen wie es Religionen naturgemäß aus ihrem Rechtfertigungszwang heraus tun. Für die Freimaurerei steht die „diesseitige Welt“, also die Welt der Körperlichkeit und Stofflichkeit, nicht im Kampf mit der „jenseitigen Welt“, der Welt der metaphysischen Realität, sondern die diesseitige Welt ist der Ort unserer Handlung, sie wird von uns geformt und erfüllt. Wenn wir also in diesem Sinn von Gesetz oder Gesetzmäßigkeiten reden, tun wir das nicht im weihrauchgeschwängerter Nebelhaftigkeit, sondern im direkten Bezug auf die praktische Handlung, die aus unserer humanistischen Gesinnung erfolgt. Freimaurerei ist hierbei das Instrumentarium, dessen wir uns bedienen um dieses Gesetz Stück für Stück für uns zu erschließen.
Fraglos stoßen wir dabei zwangsläufig an unsere Grenzen. Das heißt, wir gelangen in unserem Bestreben an einen Punkt, der nicht mehr zu erklären ist. Wir begreifen nur seine Unbegreiflichkeit. Jedoch, im Unterschied zu religiösen oder esoterischen Gruppierungen versuchen wir als Freimaurer, dieses Gesetz mit unserem Handwerkzeug zu ergründen. Ich möchte dieses Tun mit einer kurzen Erzählung von Franz Kafka erläutern.
Sie heißt „Vor dem Gesetz“ und handelt von einem Mann, der vor das Gesetz tritt. Davor steht ein grimmiger Torhüter. Der Mann bittet um Einlass, aber der Torhüter verweigert ihn, obwohl das Tor zum Gesetz offen steht. Davon lässt sich der Mann einschüchtern und wartet. Hin und wieder unterzieht der Torhüter dem Mann kleineren Verhören, sagt zum Schluss jedoch immer, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Kurz vor seinem Tod fragt der Mann: „Alle streben doch nach dem Gesetz, wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat“. Der Türhüter erkennt, dass der Mann am Ende ist, und er muss brüllen, um ihn noch zu erreichen: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“, sagt er.
Was ich damit verdeutlichen will: würden wir bei religiösen oder esoterischen Betrachtungen verharren, würde es uns gehen wie dem Mann vor dem Gesetz. Wir würden zwar bis vor die Tor des Gesetzes gelangen, aber dann angstgesteuert unseren Erkenntnisprozess abbrechen.
Der Gedanke der Humanität beschreibt am besten das Verhältnis des Menschen zu beiden Welten. Das Gesetz der Erkenntnis soll hierfür den Weg bahnen; denn die Beherrschung dieser Welt ist nicht abhängig von einer religiösen Wahrnehmung. Die freimaurerische Ethik kann somit genauer bestimmt werden als ein Himmel oder Hölle, weil sie die humanistischen Gesetze für die Beziehung vernünftiger Wesen zueinander benennt. Sie macht dies nicht per Vorschrift, sondern sie gibt durch Symbole und Allegorien das Handwerkszeug, um diese Idee zu entwickeln. Fraglos bleibt eine solche Idee nur ein Ideal, aber sie ist dennoch brauchbar. Sie ist sozusagen eine praktische Anleitung, um eine menschengerechte Welt entstehen zu lassen.
Bei unserer Aufnahme geben wir eine Willenserklärung ab, das Gesetz zu achten. Es wird sozusagen durch diesen Vollzug zu einer verpflichtenden Kraft. Wir sollten uns ruhig hin und wieder mit dem Gelöbnis auseinandersetzen, um die Kraft des Gesetzes zu erspüren. Dabei geht es nicht um den erhobenen Zeigefinger, der uns ermahnen will, sondern um einen Fingerzeig, der uns zu neuer Erkenntnis verhilft. Oder um es noch mal mit Goethe zu sagen: Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Handreichungen
Vor dem Gesetz von Franz Kafka
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt, ob er also später nicht gewähren dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es trotz meines Verbotes hineinzugehen. Man merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer ist mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann ich nicht ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schluss sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die anderen Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“, fragt der Türhüter, „du bist wirklich unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz.“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an, „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Natur und Kunst, Johann Wolfgang Goethe
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
der Widerwille ist auch mir verschwunden,
und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden
mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Zeichnung (Vortrag) zum 29sten Stiftungsfest (05.12.2007): Gesetz und Freimaurerei